„Leb doch wie eine Termite“
Im Garten mit dem Insektenexperten Inox Kapell.

Von Manuel Halbauer

Wie ein störrisches Büschel Gras, das sich zwischen zwei Pflastersteinen hindurchzwängt, liegt der Garten da. Links und rechts ragen die fensterlosen Wände dreißig, vierzig Meter hoher Häuser in den Himmel und umschließen ein Biotop mit Seerosenteich, wild wuchernden Pflanzen, Obstbäumen und Beeten, in dem sich kleine Großstadtkinder, ihre Eltern sowie unzählige Insekten tummeln. Mitten drin: Ein Mann mit weißem Hut und Fangnetz in der Hand, Inox Kapell, Insektenexperte, Musiker und Künstler, hat in den Kids Garden zu einer insektenkundlichen Führung geladen.

Die Erwachsenen, die sich um ihn gesschart haben, schauen neugierig, aber auch unsicher, weil sie nicht so recht wissen, was sie erwartet. Insektenführung - da steigen Erinnerungen an öde Schulstunden in Biologie auf, an Vollbart- und Sandalenträger in Selbstgestricktem. Inox Kapell ist Anfang Vierzig, trägt zu Turnschuhen eine blau karierte Hose und ein farblich darauf abgestimmtes Hemd. An Kinn und Hals hat er sich den Bart stehen lassen und ihn zu zwei Zöpfen zusammengebunden, die ihm bis zur Brust reichen. Am Mittelfinger seiner rechten Hand trägt er einen Ring, mit einem in Harz gegossenen Käfer. Diesen Kastanienbockkäfer hat er in Ostfriesland gefunden, wo er aufgewachsen ist. Danach hat er dort nie wieder ein Exemplar gesehen.

Mit dem Ende des Käschers zeigt er auf ein Brett zu seinen Füßen, auf das er die Umrisse einer Milbe, einer Spinne und eines Insekts gezeichnet hat. Während Milben nur ein Körperteil hätten, verfügten Spinnen mit Brust und Hinterleib immerhin über zwei, erklärt er. Die Insekten seien noch einen Schritt voraus und hätten gar noch einen Kopf, so dass ihre Augen nicht an der Brust sitzen müssten. “Das Hauptsinnesorgan der Insekten sind die Fühler”, erklärt Inox. “Mit ihnen können sie bis zu einer Millionen mal so stark riechen wie wir. Sie riechen, was wir vor einer Woche gegessen haben.” Es gebe in Brasilien einen Feuerkäfer, der Waldbrände in 80 Kilometer Entfernung riechen könne, dort hinflöge, um in der Asche seine Eier abzulegen.

Als “Stefan Heinze” ist Inox Kapell 1966 auf die Welt gekommen ist. Den jetzigen Namen hat er einst geträumt und seine Eltern sind sich bis heute nicht schlüssig, wie sie ihn nennen sollen. Insekten begleiten ihn schon seit frühester Kindheit. “Ich bin quasi im Ameisennest aufgewachsen”, sagt er. Wenn die anderen Fußball spielten, sei er in den Wald gegangen und habe die Tiere beobachtet und fotografiert. “Ich war der Außenseiter und wurde gehänselt. Ich war bei denen der ‘Ameisenbär’.” Seine Eltern hätten dagegen seine Leidenschaft für Insekten akzeptiert. Auch wenn das bedeutete, dass er sich Terrarien ins Zimmer stellte, die keine Deckel hatten, so dass die Tiere frei durch die Wohnung laufen konnten. Für einige Semester hat er Biologie und Zoologie studiert, dann aber wieder abgebrochen. “Da geht es dann nur um das Knie der Ameise oder solche Themen. Ich fühlte mich in eine bestimmte Richtung gedrängt, in die ich nicht wollte”, erklärt Inox. Er hat sich sein Wissen seither angelesen, hat Insekten hier und auf Reisen beobachtet und gezeichnet, anfangs auch noch präpiert.

Kapell verteilt kleine Plastikbecher, unter deren Lupendeckeln die gesammelten Tiere aus dem Garten genauer betrachtet werden können. Die Erwachsenen und Kinder machen sich auf die Pirsch, jagen flüchtenden Wespen hinterher, schütteln Larven von den Blättern, schubsen Ameisen in die Becher und präsentieren Inox ihre Beute. Der bückt sich zwischendurch, rupft ein Blatt ab, steckt es sich in den Mund. “Das ist Breitwegerich. Der wächst in jedem Garten und hilft gegen alle Stiche und Bisse”, sagt er. Mit dem Finger holt er das zerkaute Grün aus seinem Mund und reibt es auf einen imaginären Mückenstich. Auch dem größten Insektenfreund rutscht einmal die Hand aus. „Wenn ich schlafen und mich nervt eine Stechmücke, dann versuche ich, sie zu fangen und aus dem Fenster zu werfen. Wenn das nicht klappt, kann es auch passieren, dass ich sie totschlage.“

Keine zwei Gehminuten vom Garten entfernt hat sich Inox Kapell sein eigenes Universum eingerichtet, das Insekteum, das seit 2006 seinen Platz in Neukölln hat. In dem Ladenlokal stehen Kleiderständer, an denen Second-Hand-Klamotten hängen, neben alten Schallplatten liegen Holzkästen mit alten Uhren und Sonnenbrillen, entlang der Wand sind Hüte und Mützen aufgehängt, Plastikameisen klettern von der Decke, selbstgemachte Zeichnungen von Vögeln und Insekten auf Papptellern kleben an der Wand. Ein Nashornkäfer aus Plastik sitzt auf einem Plattenteller, als warte er darauf, dass endlich jemand das Gerät anschaltet und er ein paar Runden drehen kann. Dies ist Inox’ Verkaufsraum, nebenan das Büro, von wo aus er seine Führungen plant, einen Fachartikel oder auch mal ein Insektenmusical schreibt, wie zuletzt für eine Schule in Hamburg. “Ich bekomme oft Fotos zugeschickt mit der Anfrage: ‘Das Tier da lebt in meiner Wohnung. Ist das gefährlich?‘ “, sagt Inox. Er könne dann oft beruhigen: “Das ist eine Marienkäferlarve. Nein, die ist nicht gefährlich.“ Klärt er nicht über Insekten auf und macht Führungen, ist er Mitglied in mehreren Bandformationen, hat mit „Urknall Tonquelle“ ein eigenes Plattenlabel, veröffentlicht Alben mit Titeln wie „Leb doch wie eine Termite“ und veranstaltet Kunstperformances. Auch dies gehört zu seinem Universum. Unter dem Laden sind noch zwei Kellerräume, in denen er Konzerte und Clubabende veranstaltet. In der ersten Etage richtet er ein Insektenmuseum ein. Derzeit ruhen die Arbeiten, da ein Gerichtsverfahren läuft, das droht, ihn und sein Insekteum aus dem Haus zu vertreiben.

Im Garten zeigt ein kleines Mädchen Inox stolz ihren Becher, auf dessen Boden eine angezählte Biene krabbelt: “Wenn du wüsstest, was Honig eigentlich ist, dann würdest du nie wieder Honig essen”, wendet er sich an ein kleines Mädchen. “Das ist eigentlich Bienenkotze”, schiebt er gleich hinterher. Das Mädchen klammert sich ängstlich an das Hosenbein ihres Vaters. Inox will verantwortungsbewusste Arbeit leisten und aufklären, insbesondere Kinder und Jugendliche, die in den großen Städte wohnen und nur wenig über ihre Umwelt wissen. “Ich will ihnen beibringen, dass alles was wir tun, Auswirkungen hat. Wir Menschen haben alle Dinge nur von der Erde geliehen und bisher nichts zurückgezahlt”, sagt Inox. “Das kommt irgendwann zu jedem Einzelnen zurück. Es gibt in der Natur Zeichen, die uns sagen sollten: Jetzt wird es Zeit!“

Ein Käfer fliegt vorbei. Seine Route wird jäh dadurch geändert, dass Inox ihn mit der flachen Hand zu Boden schlägt. Das benommene Tier nimmt er dann zärtlich zwischen Daumen und Mittelfinger. “Das ist ein wunderbarer Käfer, ein Linienbockkäfer”, sagt er. “Wenn man ihn sich ganz dicht ans Ohr hält und ihn ein wenig drückt, dann kann man ihn quietschen hören.” Er drückt, es quietscht. Dann lässt er ihn frei.